Ein Fundus der Baugeschichte
Wie wertvoll den Bauleuten früherer Zeiten das Baumaterial war, zeigt dieses ausgefallene Hausbespiel:
Häuser werden ständig verändert. Jede Generation „richtet“ die häuslichen Verhältnisse für ihre individuellen Bedürfnisse. Wer schon einmal ein Haus gebaut hat und es über die Zeitspanne mehrerer Jahrzehnte selbst genutzt hat, kennt dieses Thema. Dieses ständige Verbessern und Anpassen findet statt, seit es Häuser gibt. Die Neudenauer Altstadt wartet mit vielfältigen Beispielen zu diesem Thema auf, wobei uns heute die Methoden der historischen Bauforschung und der Dendrochronologie das Ansammeln von umfangreichem Beobachterwissen ermöglichst. Ein spannendes Beispiel ist das Gebäude Hauptstraße 5, bei welchem drei wesentliche Bauphasen eine kuriose Bauwerksgeschichte erzählen:
Das Dachwerk des Hauses, ein liegendes Stuhlgebinde, wurde 1441-d-¹ abgezimmert und 1698-d- auf einem damals errichteten 1. Obergeschoss wieder verwendet. Das Erdgeschoss des heute zweistockigen Hauses wurde um 1925 vollständig erneuert: Es ruht auf einem Keller des 14. Jahrhunderts! Wie geht denn das?
Die Antwort auf diese Frage ist ganz einfach: Im 13. oder 14. Jahrhundert entstand an diesem Platz mit einem Abstand von rund drei Metern zur heutigen Straßenkante der Hauptstraße ein kleines Haus, von welchem wir heute nur noch den Keller kennen.
Nachdem zu Beginn des 15. Jahrhunderts die Stadtummauerung entstanden war, verdichtete sich die Innenstadtbebauung und die bis heute erhaltene Straßenführung der Hauptstraße entstand. Der Hauseigentümer des Objektes in den Zeiten um 1440 war nun in der Lage, sein Grundstück bis zur Vorderkante an der Hauptstraße zu nutzen und hat mit 1441-d- gefällten Eichenhölzern ein komplett neues Haus errichten lassen, das zu 2/3 auf dem älteren Keller aufgesetzt wurde und vielleicht nur als einstöckiger Bau konstruiert gewesen ist. In einer für den Ort augenscheinlich „ wohlständigen Phase“ um 1700 war dieses Haus wohl zu klein geworden und wurde weiter aufgestockt. Hierzu haben die Handwerker das damalige Dach abgeschlagen und ein Obergeschoss aufgestellt, welches durchgängig aus Hölzern gefertigt ist, die im Winter 1697/98-d- eingeschlagen worden sind. Die Wiederverwendung des alten Daches wird nicht nur über die dendrochronolgischen Holzdaten der einzelnen Dachhölzer belegt, sondern auch über die auf diesen Hölzern eingeschlagenen Abbundzeichen. Das ursprüngliche Zuweisungs- und Zählsystem ist beim Wiederaufbau ein wenig durcheinander geraten, so dass die Zimmerleute ein zweites Zählsystem in die einzelnen Balken eingestemmt haben. Einige Hölzer liegen noch am ursprünglichen Bestimmungsplatz und besitzen ihr ursprüngliches Zuordnungssymbol, andere sind „nachgezeichnet“ und tragen daher zwei unterschiedliche Symbole, wovon das jüngere erkennbar durch die heutige Anordnung und den Einschlag in bereits komplett abgetrocknetes, verrußtes Holz ist. Weil in der Gesamtbetrachtung kein einziges Stück des durchgängig „scharf gezeichneten“ Dachwerks fehlt, lässt dies nur einen Schluss zu: Das Dachwerk war ursprünglich auf einem gleich großen Grundriss aufgebaut und ist nach einem Neuaufschlag über dem neuen Obergeschoss 1698 lediglich kostengünstig wieder verwendet worden ist.
¹ -d-: dendrochronologisch belegt
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